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Artikel von: Redaktion
01.12.2023

Crimmitschau, Israel und “Mengeles Liebling”

Birgit Schmieder an ihrer „Israel-Ecke“ im Wohnzimmer. Foto: pixnetmedia.de

Wie eine Crimmitschauererin zu Israel fand

Crimmitschau. Das Thema Israel beschäftigt zurzeit viele Menschen. Viele kennen aber weder das Land noch seine Bewohner.

Anders ist das bei der Crimmitschauerin Birgit Schmieder, mit der Foto-Reporter Mario Dudacy sprach.

Wie ist Ihr persönlicher Bezug zu Israel und seinen Menschen?

Ich fahre seit 25 Jahren nach Israel und das fast jedes Jahr. Aufgrund meines Glaubens hat mich das interessiert, ich wollte das Land kennenlernen. Es ist eine große Liebe daraus geworden. Zum Land und zum Volk.

Vor zwölf Jahren gab es die „Marsch des Lebens Bewegung”, die auch in Crimmitschau begonnen wurde. Meine Freundin, Susanne Adler, hat das organisiert und mit dem Verein „Beth Shalom“, der 2007 gegründet wurde, haben wir uns vertieft mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Unsere Vorfahren waren ja nahezu alle involviert. Das Beschäftigen, vor allem mit den Holocaustüberlebenden, ihren Geschichten, hat die Beziehung entstehen lassen.

Foto: pixnetmedia.de

Ich habe dann 2012 begonnen, meine eigene Geschichte aufzuarbeiten. Dadurch konnte ich auch die Überlebenden besser verstehen. Ich sehe das aufgrund meines Glaubens als Berufung, das Volk zu trösten, die Menschen zu trösten, die Geschichten bewusst zu hören – damit all das nie wieder geschehen kann. Ich sammele mittlerweile diese Zeitzeugengeschichten, ich besitze zahlreiche Bücher, Schriftstücke. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, was die Holocaustüberlebenden auch immer wieder betonen, es geht darum, nicht zu vergessen. Das ist ihre Botschaft!

Israel vor Ort kennenlernen

Spielt das Jüdische in Ihrem Tun und Handeln eine Rolle?

Ja, es spielt durch meinen Glauben eine Rolle, da ich an den Gott der Bibel glaube. Er ist auch der Gott der Juden. Es sollte wieder an den Ursprung zurückgegangen werden, das ist mein Ansinnen. Auch aus diesem Grund bin ich nach Israel gegangen, um Land und Leute wirklich kennenzulernen.

Die Hilfe vor Ort ist sehr vielschichtig. Welche Bereiche umfasst sie genau?

Seit 2012 arbeite ich eng mit sächsischen Handwerkern, auch aus der Region Zwickau, zusammen, es gibt sogenannte Handwerkereisen, die zwei Wochen gehen, man nimmt Urlaub, man bezahlt auch alles selbst, um die Menschen vor Ort zu unterstützen. Da werden zum Beispiel Zimmer vorgerichtet, das Bad renoviert, insgesamt also handwerkliche Leistungen erbracht, weil einfach das Geld vor Ort nicht vorhanden ist.

Gleichzeitig hat sich ein Besuchsdienst entwickelt. Dort, wo wir gearbeitet haben, ist natürlich ein menschlicher Kontakt entstanden. Den haben wir dann durch regelmäßige Besuche gefestigt. Die meisten haben keinen mehr und sind dankbar über diese Besuche. Wichtig ist dabei das Gefühl, sie werden nicht vergessen!

Die Handwerksleistungen werden über Spenden finanziert. Den Besuchsdienst habe ich einmal im Jahr für mich eingeplant.

Es gibt natürlich auch Schriftverkehr zwischen uns, per Whatsapp, selten per Brief. In den Wohnungen läuft 24 Stunden die Verbindung per Internet, einfach, um mit den Familien, die oft in Amerika leben, in Kontakt zu sein.

Die Verarbeitung des Traumas beschäftigt die Überlebenden bis heute, deshalb ist eine Verbindung zu anderen Menschen so wichtig. Viele können schlecht schlafen, versuchen sich abzulenken. Es gibt auch Menschen, die bis heute gar nicht über das Erlebte sprechen können.

Wie siehst man in Israel Deutschlands Geschichte?

Wer die braune Geschichte Deutschlands verstanden hat, weiß auch um die Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Welche Rolle sollte das 2023 noch spielen?

Für die Menschen, die ich zum Beispiel besuche, zähle ich als Mensch. Ich bin eine andere Generation. Wir sind die „anderen Deutschen“, nicht diese, wie sie damals erlebt wurden. Es kommt nur immer wieder die Botschaft: Bitte vergesst es nicht, was uns widerfahren ist!

Das Bild hat die Überlebende Annika Tetzner gemalt. Foto: pixnetmedia.de

Die noch existierenden Zeitzeugen des Holocaust – ich selbst habe Henriette Kretz in Crimmitschau erlebt – haben es sich zeitlebens zur Aufgabe gemacht, Menschen über ihr Schicksal – sechs Millionen ermordete Juden – aufzuklären und zur Menschlichkeit aufzurufen. 

Wie sehen diese Überlebenden wohl auf die heutige politische Lage?

Viele sind neu traumatisiert. Durch die Raketen, den Alarm, der ständig ertönt, die Angst, kommen alle Erinnerungen wieder hoch. Es geht ihnen richtig schlecht. Sie haben große Not damit. Es sind bei den Entführten auch Holocaustüberlebende dabei.

Reale Informationen über Israel

Durch Ihre persönlichen Kontakte schauen Sie ja mit anderen Emotionen auf die Ereignisse. Was raten Sie den Menschen in Ihrem Umfeld, welche Informationsquellen sind zu nutzen, um sich ein wahrheitsgemäßes Bild der Geschehnisse zu erschließen?

Ich persönlich nutze über Whatsapp Michael Schneider von „Israel heute“. Hier erfahre ich regelmäßig die neuesten Nachrichten. Die Nachfrage nach der Wahrheit ist groß. Seine Eltern sind in den 60er Jahren von Quedlinburg ausgewandert, weil sie jüdisch sind. Er kann deutsch und war auch schon mehrfach in Crimmitschau in der Gemeinde.

2024 reisen Sie wieder nach Israel. Welches Gepäck, ideell und materiell, würden Sie gern mitnehmen?

Ideell ist es natürlich der Besuch an sich. Es ist die Freude darüber auf beiden Seiten. Dann bringe ich gern zum Beispiel Kosmetik mit. Das ist in Israel fast dreimal so teuer wie hier. Die Lebens- und Mietkosten sind horrend hoch. Aber auch Bücher sind willkommen, es kann Deutsch gelesen werden.

Auffällig ist, dass persönliche Dinge oft nicht in den Schränken untergebracht sind, sondern offen sichtbar daliegen. Es zeigt, welche Auswirkungen es auch nach all den Jahren gibt, dass sie als Kinder, als sie in den KZs waren, nichts hatten. Das betrifft für uns einfache Dinge wie Geschirr oder Besteck. Es ist wie ein Nachholen. Sie ziehen sich gut an, schminken sich, richten die Haare.

Ein besonderer Wunsch einer Holocaustüberlebenden war einmal eine Puppenstube! Der nicht erfüllbare Traum eines damaligen Kindes. Sie holt damit ihre Kindheit nach…

Der jüdische Witz und Humor, auch über sich selbst lachen zu können, ist, trotz der Schwere des Themas, weltbekannt. Was fällt Ihnen dazu spontan ein?

Die Menschen an sich sind überaus herzlich und liebevoll. Sie sind gastfreundlich und natürlich auch fröhlich. Sie strahlen einfach Liebe aus! Das fehlt uns oft. Das Jiddische kommt auch in unserem Sprachgebrauch öfter vor, wie koscher – Kaff – Mischpoke – malochen. 

Wie sind die jungen Israelis in diese gesamte Thematik involviert?

Sie können die Thematik nicht verdrängen, gerade bei den derzeitigen Ereignissen. Es kommen wieder Menschen um. Man trauert gemeinsam, man weint gemeinsam. Oft kommen dabei bis zu 500 Menschen zusammen. Es bleibt keiner allein, ganz gegensätzlich zu unserer Mentalität.

Kennt man in Israel die Stolpersteine?

Wie werden die sogenannten Stolpersteine von den Juden gesehen?

Sie werden positiv gesehen. Gerade, weil die Namen dort zu sehen sind, die die Nazis auslöschen wollten. In den KZs war jeder nur noch eine Nummer. Jetzt werden sie dadurch wieder sichtbar, werden gelesen, man erinnert sich.

In ihrem Wohnzimmer hängt ein beeindruckendes Bild, was hat es damit auf sich?

Das Bild hat eine Überlebende, Annika Tetzner, gemalt. Sie war als kleines Kind in Theresienstadt und in Auschwitz. Sie musste mit ansehen, wie ihr Bruder erhängt wurde.

Birgit Schmieder traf auch Annika Tetzner, “Mengeles Liebling”. Foto: pixnetmedia.de

Mit ihrem Namen verbinde ich auch die furchtbare Tatsache, dass der sogenannte Arzt Mengele sie als seinen „Liebling“ bezeichnete, da sie als Jüdin blond und blauäugig war. Welche Experimente er mit ihr machte, dafür war er bekannt und gefürchtet, erzählt sie nicht. Bis heute, sie lebt noch, kommen ihr die Worte nicht über die Lippen…

Ein jüdisches Sprichwort lautet: „Was deine Augen nicht gesehen, soll dein Mund nicht bestätigen.“ Gerade deshalb bedanke ich mich bei Ihnen für die interessanten, informativen und emotionalen Momente!