Start Erzgebirge Sven Schulze: Die Arbeitslosigkeit im Erzgebirge wird steigen
Artikel von: Andre Kaiser
23.06.2023

Sven Schulze: Die Arbeitslosigkeit im Erzgebirge wird steigen

Sven Schulze, Chef der Annaberger Arbeitsagentur. Fotos: Andre Kaiser

Perspektivisch kein gutes Bild für die Region

Region. Sven Schulze, Chef der Arbeitsagentur Annaberg-Buchholz, sprach mit dem WochenEndSpiegel in einem Interview über die Entwicklung in der Region. Für das Erzgebirge malt Schulze nicht gerade ein gutes Bild. Trotz gesunkener Arbeitslosenquote prophezeit er eine steigende Arbeitslosigkeit.

Flüchtlinge steigern die Quote im Erzgebirge

WES:

Mindestlohn, Corona, Krieg. Viele hatten geunkt, dass gegenwärtige Faktoren den Arbeitsmarkt ins Wanken bringen könnten. Jetzt betrachte ich die Zahlen und sehe, dass die Arbeitslosenquote zum Vormonat gesunken ist. Wie kommt das?

SVEN SCHULZE: 

Genau genommen ist die Arbeitslosenquote im Erzgebirge nicht gesunken, sondern gestiegen. Demnach haben wir mit 8.472 Personen bzw. 5,0 Prozent im Schnitt per April eine höhere Arbeitslosenquote als zur selben Zeit im letzten Jahr, wo die Quote bei 4,1 Prozent lag. Dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit hat aber im Wesentlichen eine Ursache. Denn beim genauen Hinschauen sieht man den Anstieg im Bereich des Bürgergeldes bzw. Jobcenters, also SGB II. Dies hängt stark mit dem Thema Migration, hauptsächlich ukrainischer Flüchtlinge, zusammen. Im Bereich des Arbeitslosengeldes bzw. der Agentur, also SGB III hingegen beobachten wir eher eine Seitwärtsbewegung, also keinen wirklich wahrnehmbaren Anstieg der Arbeitslosenquote. Wenn man Effekte wie Migration und Saison außen vor lassen würde, hätten wir eine ähnliche Entwicklung wie in den Vorjahren. Letztendlich werden wir aber in diesem Jahr einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verzeichnen, eben wegen der genannten Effekte.

Integration kann nicht von jetzt auf gleich erfolgen

SVEN SCHULZE: 

Die zugewanderten Menschen können nicht so schnell integriert werden. Hier gilt es Sprachbarrieren abzubauen, Kinderbetreuung zu sichern oder auch berufliche Qualifikationen zu ermöglichen. Dennoch bleibe ich optimistisch. Denn ich glaube, was uns nach wie vor prägt, ist der hohe Fachkräftebedarf allein mit 2.800 bei der Agentur gemeldeten Stellen. Die Arbeitgeber sind weiterhin interessiert, ihre Arbeitskräfte zu binden, auch wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schwieriger geworden sind, Stichwort steigende Energiepreise. Im Erzgebirge gibt es ja bekanntlich viele Kleinstunternehmen, die flexibel aufgestellt sind und recht schnell auf wirtschaftliche Veränderungen reagieren können. Das hat die Region schon immer ausgezeichnet und hilft wahrscheinlich auch in der aktuellen Situation maßgeblich. Zudem werden in den nächsten Jahren tausende Beschäftigte altersbedingt aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Die Ersatzbedarfe sind aufgrund der demografischen Entwicklung enorm. Was auch auffällt: Viele familiengeführte Firmen im Erzgebirge sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, was sich ebenfalls positiv am Arbeitsmarkt auswirkt.

Aktuell Freude über positiven Trend

WES:

Bei solch einem robusten Arbeitsmarkt, den offenbar nichts erschüttern kann: Haben Sie da hin und wieder Bedenken, dass Ihnen über kurz oder lang die Arbeitslosen ausgehen werden?

SVEN SCHULZE: 

Natürlich freuen wir uns über den positiven Trend speziell im SGB III. Knapp 2.700 arbeitslose Frauen und Männer in dem Bereich klingt erst einmal nicht viel. Allerdings muss man dabei bedenken, dass hinter dieser Zahl fast 10.000 Kunden stehen, die uns kontaktieren, da es sich hierbei um eine Bewegungszahl handelt, die sich jeden Monat durch Zugänge und Abgänge verändert und die Menschen sowohl leistungsseitig, als auch vermittlerisch betreut werden müssen. Hinzu kommt die Berufsberatung für z.B. fast 3.000 Schulabgänger und die Betreuung der Arbeitgeber durch unseren Arbeitgeberservice. Dabei erfordert gerade der Arbeits- und Fachkräftemangel eher umfangreichere Beratung. Speziell dieses Geschäft wird immer intensiver.

WES:

Ihr Job ist es ja, für jeden Topf den passenden Deckel zu finden, für jede freie Stelle einen geeigneten Bewerber zu vermitteln. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass sich dies mit der Zeit immer schwieriger gestaltet, da ja bei den Deckeln immer weniger Nachschub kommt. Wie kompensieren Sie das?

Agentur für Arbeit fährt Vier-Säulen-Modell

SVEN SCHULZE: 

Wir verfolgen als Agentur schwerpunktmäßig vier Säulen zur Arbeits- und Fachkräftesicherung: die Vermittlung von Arbeitssuchende, Fachkräftenachwuchs, Bindung von Arbeitskräften und Zuwanderung.

Klassisch ist zunächst die Vermittlung von Arbeitsuchenden, insgesamt 8.200 in beiden Rechtskreisen SGB II und III. Hier gilt es, diese über Weiterbildung, Vermittlungsvorschläge oder Arbeitserprobung für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Eine weitere Säule, die wir intensiv bedienen, ist die Sicherung des Fachkräftenachwuchses im Rahmen der Berufsorientierung und Berufsberatung an Schulen mit dem Ziel, Stärken-orientiert zu beraten, aber auch realistisch aufzuzeigen, wo Entwicklungschancen in der Region bestehen. Gemeinsam mit dem Jugendamt und dem Jobcenter haben wir die Jugendberufsagentur gegründet, wo wir uns um Jugendliche kümmern können, denen es schwerer fällt, als anderen. Schließlich ist unser Anspruch, dass jeder ein Angebot erhält und keiner regional verloren geht. Auf der anderen Seite beraten wir Firmen, wie sie für Ausbildungssuchende  attraktiver werden können. Ein wichtiges Thema ist zudem die Bindung von Arbeitskräften. Wir beraten Arbeitgeber z.B. mit Blick auf die Entwicklung der Beschäftigten in Unternehmen. Dabei bieten wir verschiedene Fördermöglichkeiten, wie die finanzielle Unterstützung bei Qualifizierung.

Bei der Säule Zuwanderung besteht für jeden Arbeitgeber die Möglichkeit, sich von uns zu diesem Thema intensiv beraten zu lassen. Außerdem bieten wir ein Plattformgeschäft an, wo Stellenofferten weltweit veröffentlicht werden können. Regional haben wir hier unseren EURES-Berater, der in Tschechien und Deutschland zur grenzüberschreitenden Mobilität berät. Aktuell haben wir wieder Kontakte in die Slowakei geknüpft, wo sich auch schon erste Vermittlungen anbahnen. Obendrein bedienen wir noch ein Projektgeschäft, wo wir in die gezielte Anwerbung von Auszubildenden und Fachkräften aus Drittstaaten gehen. Das heißt, dass die Agentur national Vereinbarungen mit Drittstaaten schließt, wo wir die Anwerbung übernehmen und Arbeitgeber suchen, die dafür Interesse zeigen. Allerdings registrieren wir hier zurzeit kaum Abfragen.

Ein Drittel ist bereits Ü50

WES:

Und auf welchen Gruppen liegt derzeit Ihr Fokus?

SVEN SCHULZE: 

Auffällig ist, dass bei den 8.200 arbeitslosen Menschen im Erzgebirge mehr als ein Drittel über 50 Jahre ist. Mit Blick auf die demografische Entwicklung wird sich dieser Trend aus meiner Sicht wohl künftig noch verstärken. Es handelt sich vielmals um Menschen mit Lebenserfahrung und nachgefragten beruflichen Kompetenzen. Auch mit kurzen und gezielten Qualifizierungsmaßnahmen können wir dazu beitragen, dass diese breiter und nachhaltiger aufgestellt bzw. vielseitiger einsetzbar sind, um eine erneute Arbeitslosigkeit weitestgehend zu vermeiden. Eine weitere Zielgruppe bleibt die der geringqualifizierten Menschen, insbesondere ohne Berufsabschluss, denen wir vor Augen halten, dass speziell sie mehr als andere von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Übrigens: Per 1. Juli hat der Gesetzgeber mit der Einführung des Bürgergeldes die Rahmenbedingungen geändert, wo es für diejenigen, die sich in Qualifizierung begeben, Bildungsprämien gibt.

Arbeitsplatz- und Branchenwechsler sind ein Thema

WES:

Und was ist mit den Beschäftigten. Da die Lohnuntergrenze nun praktisch für alle gleich ist, könnte ich mir vorstellen, dass manch einer mit dem Gedanken spielt, den Arbeitsplatz bzw. die Branche zu wechseln. Haben Sie diese auf dem Schirm?

SVEN SCHULZE: 

Grundsätzlich ist es so, dass jeder, der in Beschäftigung ist, bei uns eine Arbeitsmarktberatung in Anspruch nehmen kann. Zudem veröffentlichen wir mittlerweile fast jedes Stellenangebot in unserer Jobbörse. Beschäftigte könnten sich praktisch auch bei uns arbeitssuchend melden. Darüber hinaus wurde als neues Dienstleistungsangebot die Berufsberatung im Erwerbsleben etabliert, die wir auch außerhalb unserer Räumlichkeiten durchführen. Hier werden Interessierten Möglichkeiten der individuellen Berufswegplanung aufgezeigt, aber auch Unterstützung angeboten, wie man mit seinem Arbeitgeber z.B. Themen der beruflichen Weiterentwicklung thematisieren kann. Das Angebot wird zunehmend in Anspruch genommen. Wer sich mit dem Gedanken der Um- bzw. Neuorientierung trägt, dem kann ich diese Beratungsleistung nur wärmstens empfehlen.

WES:

Nun haben wir ja schon wieder Halbzeit. Zeit in die Glaskugel zu blicken: Welche Zahlen werden Sie uns per 31. Dezember 2023 präsentieren und warum?

SVEN SCHULZE: 

Ich sage mal so: Die Durchschnittszahlen zu 2022 werden hochgehen. Wenn wir am Ende bei einer Arbeitslosenquote von unter fünf Prozent bleiben, wäre das schon ein sehr gutes Ergebnis. Man muss allerdings damit rechnen, dass vor dem Komma eine Fünf stehen wird. Das Endergebnis wird von vielen verschiedenen Faktoren und deren Entwicklung abhängen.

Entwicklung des Mindestlohns beschäftigt Sven Schulze

WES:

Eine letzte Frage: Im Juni wird die Mindestlohn-Kommission dem Arbeitsminister eine neue Zahl nennen. Dieser und die Sozialverbände fordern wegen der hohen Inflation bereits eine deutliche Steigerung. 14 Euro und mehr sind im Gespräch. Wie ist Ihre Meinung dazu?

SVEN SCHULZE: 

Grundsätzlich war mit der Einführung des Mindestlohnes verankert, dass dessen Entwicklung über die Mindestlohn-Kommission verhandelt wird. Dort diskutieren die beiden Interessenvertretungen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.  Ich fand dieses Verfahren immer gut. Fakt ist, dass mit Einführung und Erhöhung des Mindestlohnes bisher keine Jobverluste entstanden sind, im Gegenteil. Wenn man die Entwicklung des Lohn-Medians im Erzgebirge betrachtet, haben wir zwar eine positive Entwicklung, trotzdem liegen wir immer noch im hinteren Drittel in Sachsen. Der Lohn bleibt der entscheidende Faktor bei der Auswahl der Arbeitsstelle und muss auch regional weiter steigen. Arbeitnehmer sollten aber auch das Gesamtpaket unter die Lupe nehmen, mit sozialen Leistungen, Urlaubsansprüchen, Gesundheitsmanagement, Betriebsklima etc. 

Sollte der Mindestlohn weiter steigen, beschäftigt mich vor allem die Frage, ob sich dann der Abstand zwischen Ungelernten und Fachkräften noch abbilden lässt.  Daher sollte mit Augenmaß gehandelt werden.