Start Erzgebirge „Öffne der Veränderung die Arme. Verliere dabei nicht deine Werte aus den Augen“
Artikel von: Andre Kaiser
20.01.2021

„Öffne der Veränderung die Arme. Verliere dabei nicht deine Werte aus den Augen“

Sven Schulze, neuer Leiter der Agentur für Arbeit Annaberg-Buchholz Fotomontage: André Kaiser

Annaberg-Buchholz. Seit drei Wochen leitet Sven Schulze die Geschicke der Annaberger Arbeitsagentur. Der gebürtige Marienberger ist seit 1994 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) beschäftigt, durchlief während seiner Zeit bei der BA verschiedene Stationen, zuletzt als operativer Leiter im Jobcenter Zwickau.

Jetzt freut er sich, „als Vorsitzender der Geschäftsführung in die Agentur für Arbeit Annaberg-Buchholz zurückzukehren und aktiv die künftige Entwicklung der Region mitzugestalten“. Momentan sicher keine leichte Aufgabe, angesichts der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkkungen. Und dennoch zeigt sich der 44-Jährige im Gespräch mit dem WochernENDspiegel optimistisch und motiviert.

Das Interview lesen Sie hier:

Gestatten Sie mir zunächst eine persönliche Frage. Was hat Sie bewogen, sich in Kühnhaide, einem der kältesten Orte Deutschlands, nieder zu lassen?
Sven Schulze: Es war die Liebe. Meine Frau stammt aus Kühnhaide. Ich bin aber selbst überzeugter Kühnhaidner, weil ich mich gern in der Natur und an der frischen Luft aufhalte. Und da ist Künhaide ein echtes landschaftliches Idyll, wo man Ausflüge mit Kindern, per Rad oder zu Fuß unternehmen kann. Zudem erfährt man einen unglaublich starken Zusammenhalt der Einwohner, auch in schwierigen Zeiten. Deshalb fühle ich mich hier trotz der kalten Temperaturen mit meiner Familie gut aufgehoben.

Thema Arbeitsmarkt. Wo liegt angesichts der Entwicklung und der angespannten Lage in einigen Branchen Ihr Fokus?
Arbeitslosigkeit reduzieren oder verhindern?
Sven Schulze: Die Corona-Pandemie hat uns am Arbeitsmarkt vor enorme Herausforderungen gestellt. Wir sehen, dass der Lockdown sich sehr stark auf die wesentlichen Arbeitsmarkt-Indikatoren auswirkt. Wir haben zum Beispiel bei der Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt rund 8.200 arbeitslos gemeldete Frauen und Männer, ein Vorjahreszuwachs von fast acht Prozent. Hinzu kommt, dass uns auch weniger freie Arbeitsstellen gemeldet wurden. Bis 30.06.2020 liegen zudem die Beschäftigten-Daten vor. Hier stellt sich die Entwicklung mit einem Rückgang von zwei Prozent im Moment glücklicherweise noch sehr robust dar. Hieran erkennt man aber auch, dass Branchen wie das Verarbeitende Gewerbe, das Gastgewerbe oder die Zeitarbeit abgebaut haben. Andere Branchen wie im Gesundheitsbereich, Heim- und Sozialwesen, Verkehr und Logistik konnten hingegen Zuwächse verbuchen.
Mit Blick auf den Lockdown ist unsere Strategie durch Kurzarbeitergeld Arbeitslosigkeit zu vermeiden und die Beschäftigten für die Unternehmen zu sichern. Das gibt den Betrieben die Chance, ihre Arbeitnehmer an sich zu binden. Und wenn doch Arbeitslosigkeit eintritt, dann schauen wir, dass wir schnell Arbeitslosengeld auszahlen können, damit die Existenz der Menschen gesichert ist, und nutzen unsere Instrumente wie Qualifizierung, um die Berufe eben auch etwas krisensicherer zu gestalten bzw. einen Neustart zu ermöglichen.

Sie sagten es. Ein wichtiges Instrument ist das Kurzarbeitergeld. Wie hat sich dabei die Antragslage entwickelt?
Sven Schulze: Rückblickend können wir 2020 einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Lockdown erkennen. Beginnend ab März stiegen die Anträge. Im April hatten wir den höchsten Stand mit 25.000 Beschäftigten in ca. 3.300 Betrieben in Kurzarbeit, hauptsächlich im Verarbeitenden Gewerbe. Das ist enorm. Bedenkt man, dass im Erzgebirge rund 113.000 Frauen und Männer beschäftigt sind, bedeutet dies, dass etwa jeder vierte bis fünfte Beschäftigte in der Zeit auf Kurzarbeitergeld angewiesen war. In den Sommermonaten entspannte sich die Situation glücklicherweise. Mit neu beginnendem Lockdown kamen in den Monaten November und Dezember allerdings dann etwa 1.000 neue Anzeigen von Betrieben mit einem Arbeitnehmer-Volumen von ca. 4.500 Beschäftigten vorwiegend aus Gastronomie und Einzelhandel, aber auch aus dem Dienstleistungssektor, wieder dazu. Das Verarbeitende Gewerbe spielte hier im Gegensatz zum ersten Lockdown noch eine untergeordnete Rolle.

Bei länger andauernder Pandemie: Muss man fürchten, dass die Ressourcen irgendwann ausgeschöpft sind?
Sven Schulze: Kurzarbeitergeld ist eine Pflichtleistung der Bundesagentur. Das heißt, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, besteht auch ein gesetzlich normierter Rechtsanspruch. In dem Zusammenhang sind die Ressourcen dafür einzuplanen. Es besteht also kein Risiko, dass man mit fehlenden Auszahlungen rechnen muss.

Muss angesichts der veränderten Lage durch Corona intern etwas geändert werden, um die Abläufe zu optimieren?
Sven Schulze: Ich sehe die Agentur gut aufgestellt. Wir konnten aus dem Frühjahr viele Erfahrungen mitnehmen, die wir jetzt nutzen. Wir sind für unsere Kunden erreichbar, telefonisch, aber auch über unsere Online-Kanäle. Zudem sind so genannte Notfallschalter eingerichtet. Das heißt, wenn ein Kunde zu uns kommt und ein dringendes Anliegen hat, wird er auch bedient. Das Wichtigste aber ist: Wir beraten terminiert. Dabei wird für Kunden und Mitarbeiter ein sehr strenges Hygienekonzept umgesetzt.
Von der Ausrichtung her bedeutet dies, dass wir unsere Ressourcen bündeln. Zuerst muss die Leistung stehen. Dazu gehört in erster Linie die Sicherung der Existenz der Menschen im Erzgebirgskreis. Wir sorgen für eine zügige Auszahlung von Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld.
Ein zweiter Schwerpunkt ist die Sicherstellung von Ausbildung. Durch telefonische Beratung, Nutzung der digitalen Angebote und auch persönliche Gespräche bringen wir junge Mensche und Betriebe zusammen. Neu bieten wir Mädchen und Jungen Video-Beratungen an. Ich halte es für wichtig, dieses Angebot weiter auszubauen. Hier würden wir gern den Zugang über die Schulen nutzen, um den Jugendlichen konkrete Angebote zu unterbreiten.

Wo wir bei den Zielen sind. Worauf legen Sie Ihren Fokus?
Sven Schulze: Mittel und langfristig bleibt es bei den Herausforderungen am Arbeitsmarkt. Es gibt bereits sichtbare Folgen der demographischen Entwicklung, die neue Ideen für die Gewinnung und Bindung von Fachkräften erfordern. Dazu kommen nach wie vor die Herausforderungen der Digitalisierung und Entwicklung der E-Mobilität. Vor dem Hintergrund wollen wir insbesondere mit einer lebensbegleitenden Berufsberatung die im Unternehmen Beschäftigten begleiten und dabei vor allem kleinen mittelständischen Unternehmen Möglichkeiten der Qualifizierung während der Beschäftigung aufzeigen. Dazu gehört, dass wir mit Blick auf den Strukturwandel auch mit unseren Partnern die Weiterentwicklung der Bildungsprodukte anstoßen. Ein großes Thema bleibt zudem die Berufsorientierung und -beratung vor dem Erwerbsleben, wo wir Jugendliche an der ersten Schwelle auch über die Jugendberufsagentur Erzgebirge auf Berufs- und Entwicklungsmöglichkeiten in der Region aufmerksam machen. So sollte uns mit Blick auf den enormen Fachkräftebedarf, der uns bevorsteht, wirklich keiner verloren gehen.

Eine letzte Frage. In welcher Kategorie sehen Sie sich: Bürohengst oder Weltverbesserer?
Sven Schulze: Ich war ja bis 31.12.2020 als operativer Leiter im Jobcenter Zwickau beschäftigt. Und da haben mir die Kollegen zum Abschied ein schönes Zitat mitgegeben: „Öffne der Veränderung die Arme. Verliere dabei deine Werte nicht aus den Augen.“ Dieses charakterisiert mich ganz gut, denke ich. Wenn man nicht den Anspruch hat, diesen agilen Rahmenbedingungen gut zu begegnen, dann bin ich hier und jetzt an der falschen Stelle. Das Leben und die Arbeit vieler Erzgebirger basiert auf Werten. Dies hat hierzulande in den letzten Jahren den Erfolg der regionalen Wirtschaft ausgemacht. Viele familiengeführte Unternehmen schafften es mit ihren Produkten teilweise bis an die Weltspitze, weil Wertarbeit im Vordergrund steht. Deshalb glaube ich, ist dieses Zitat charakteristisch für die Region, aber auch für mich.